Rezension: „№ 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam“ – Ein Buch über komplizierte Fragen und überraschende Antworten
von Cornelia Grobner
Erster Eindruck: Der Titel liest sich wie ein Rätsel (schön!), aber der Einstieg war mir ein bisschen zu wirr und holprig (mühsam!) – doch einmal vom Leseflow erfasst, mochte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen (ehrlich!).
Das Buch in fünf Sätzen: Die Hautfarbe von der Mutter, die hagere Figur vom Vater, den schrägen Humor von der anderen Mutter, aber von wem kommt diese Sport-Unlust? Der 15-jährige Milo macht eine Art moderne Heldenreise, auf der er genaugenommen seinen biologischen Vater finden will, aber letztlich vor allem viel über (seine) Familie erfährt. Begleitet wird er dabei von Hollis (14), Abby (15) und Noah (17). Ach, ja, und dann sind da noch fünf lebende und eine verstorbene Mutter, die immer noch eine aktive E-Mail-Adresse besitzt, und Josh, und JJ, und die Katze Yvette. Aber lest am besten selbst!
Top: Die Figuren, Jugendliche wie Erwachsene, wirken unglaublich echt. Sie haben wie wir alle sympathische genauso wie unsympathische Macken, die im Laufe der Geschichte mal mehr mal weniger zum Vorschein kommen. Am liebsten möchte man sich zu den unkonventionellen Familientreffen selbst einladen – und das wäre vermutlich auch kein Problem. Die schöne Botschaft des Buches ist: Familie ist, was du draus machst, und mit Genen hat das nur am Rande zu tun.
Flop: Im Eifer des Gefechts … ähm … der Vergleiche von (Un-)Ähnlichkeiten zwischen Kindern und ihren (nicht-)biologischen Eltern bemüht die Autorin leider antisemitische Stereotype (v. a. in Bezug auf „jüdisches Aussehen“).
Lieblingszitat: „Pass auf, was du sagst, sonst landest du in meinen Memoiren“

Fünf Jugendliche, ein unbekannter Samenspender und eine gemeinsame Mission – das ist die skurrile Ausgangssituation in „№ 9677“. Wir finden: ein spannender Jugendroman mit Charme, Witz und Tiefgang!
Fünf Jugendliche, ein unbekannter Samenspender und eine gemeinsame Mission – das ist die skurrile Ausgangssituation in „№ 9677“. Wir finden: ein spannender Jugendroman mit Charme, Witz und Tiefgang!
Eigentlich sind Hollis aus Minnesota und Milo aus New York ganz unterschiedlich: Er ist schüchtern, sie selbstbewusst und rebellisch. Er ist schmächtig und fühlt sich manchmal unsichtbar, sie zeigt ihre neuerdings „kardashianhaften Kurven“ gerne. Auf den zweiten Blick haben die zwei aber ganz schön viele Gemeinsamkeiten: das störrische dunkle Lockenhaar, das Außenseitertum, den gemeinsamen Vater. Die beiden Jugendlichen haben jeweils zwei lesbische Mütter und wurden aus derselben Samenspende im Reagenzglas gezeugt.
Während Hollis keine Lust hat, den Mann dahinter kennenzulernen, sehnt Milo sich nach einer Vaterfigur.
„Milo brauchte einen Vater. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so was auch nur dachte, denn obwohl seine beiden Mütter ihn manchmal in den Wahnsinn trieben, liebte er sie und wollte ihnen nicht das Gefühl geben, sie seien unzulänglich. (…) Und wen interessierte es, was ihm wehtat? Dass er sein Leben ohne Vater verbringen musste? Fünfzehn Jahre ohne einen Mann zum Reden. Ohne jemanden, der ihm zeigte, wie man eine Krawatte band, wie man sich rasierte oder ein Mädchen ansprach.“
Eine Suche zwischen Schulalltag und Halbwahrheiten
Söhne und Väter, Töchter und Mütter. That’s it? Naja, ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn Hollis hat ebenso Grund zum Lamentieren: Während es mit ihrer Mom zwar viele offene Gespräche über Verhütung („Nicht alle Babys werden in der Petrischale gezeugt“) und Liebe („Alle Herzen sind gleich“) gegeben hat, blieben andere Gespräche ebenso aus. Eltern sind schließlich auch nur Menschen.
„Nicht gesprochen hatten sie dagegen über Mittagspausen, die man knutschend mit jemandem, den man nicht liebte, in der Aula verbrachte, einfach so, aus Spaß.“
Natasha Friends Buch, das im englischen Original „The Other F-Word“ heißt, stellt das Leben von Hollis, Milo, Abby, Noah und JJ vor, die alle eines verbindet: zumindest ein nicht-biologisches Elternteil. Während die einen sich nichts sehnlicher wünschen als (familiäre) Normalität, ist das genau der Zustand, den die anderen vermeiden wollen. Oder, um es mit den Worten von Abby zu sagen:
„Mein Leben ist so spannend wie eine beigefarbene Bundfaltenhose. Wenn ich die Nachfolgerin von Augusten Burroughs [Anmerkung: ein US-amerikanischer Schriftsteller] werden will, brauche ich ein paar Flecken und Risse, Brandlöcher und Blutspritzer.“
Der 15-jährige Milo versammelt sie alle, um den gemeinsamen Samenspender ausfindig zu machen. (Vorgeschobenen) Anlass dazu gibt sein marodes Immunsystem, das ihm aufgrund einer Genmutation exzessive Allergieschocks beschert.

Die US-amerikanische Autorin Natasha Friend erzählt die Geschichte von Milo, der sich mit seinen Halbgeschwistern aufmacht, ihren gemeinsamen leiblichen Vater – Samenspender Nummer 9677 – zu finden. © Tom Bloom
Wie viel gemeinsame Gene braucht eine Familie?
Mehr noch als ihre genetische Herkunft verbindet die Halbgeschwister, die über die ganze USA verstreut leben, auch ihr waches Interesse aneinander und ihr kluger Humor. Wenn sie E-Mails und WhatsApp-Nachrichten austauschen, fliegen den Leser_innen Sprüche und Wortspiele um die Ohren, die eine_n durchaus einmal laut auflachen lassen („Hallo, U-Bahn-Sitznachbar_innen!“).
Das Buch räumt mit Stereotypen zu Familie auf und streift wie nebenbei die großen Themen des Erwachsenwerdens. Freundschaft, Körperlichkeiten, Wut, Eltern-Peinlichkeiten, Traurigkeit, Verliebt-Sein, Unsicherheit, Mobbing, Homofeindlichkeit, Rebellion. Die Geschichte von Milo und Hollis nimmt sich auf ganz wunderbare Weise jenen Themen an, die man sich nicht aussucht. Themen, die plötzlich einfach da sind. Themen, die eine_n ins Grübeln stürzen und manchmal traurig machen. Wer bin ich eigentlich? Warum bin ich so, wie ich bin? Was habe ich von meinen leiblichen Eltern geerbt? Was macht eine Mutter aus? Was einen Vater? Milo und Hollis sind sich sicher: Die Gene sind es nicht. Aber trotzdem, ja, trotzdem bleibt das Rätsel um den Samenspender Nummer 9677.
„Vater. Ein Wort wie aus einer Fremdsprache. Kauderwelsch. Pidgin.“
Gemeinsam begeben sich die Halbgeschwister auf Milos „Heldenreise“, wie er es ganz poetisch nennt. Dass alle dafür ganz eigene Gründe haben, macht überhaupt nichts. Im Gegenteil.
„№ 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam“ ist ein unkonventionelles und lesenswertes Buch über sichtbare und unsichtbare Alltäglichkeiten, in denen immer auch die großen Fragen des Lebens stecken.
№ 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam (2017) – Natasha Friend – Verlag Magellan – 331 S. – 17 € (gebundene Ausgabe) – Altersempfehlung: ab 13 Jahren (Vom Verlag wurde ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.)