Lesung: Ellbogen von Fatma Aydemir
In Fatma Aydemirs Roman geht es um Hazal, ein gerade volljährig gewordenes Mädchen, das zwischen Welten lebt – auf der einen Seite sind ihre sehr konservativen türkischen Eltern, auf der anderen Seite die deutsche Gesellschaft, die ihr vor allem eine Zurückweisung nach der anderen entgegen bringt.

Fatma Aydemir © Carmen Catuti
Im Rahmen der q[lit]*clgn haben wir die Lesung mit Fatma Aydemir besucht und gemeinsam mit der Moderatorin Aurora Rodonò hat sich ein spannendes Gespräch entwickelt: über Hazals Konflikte, die Suche nach Halt und Heimat, die Enttäuschung und Wut über ständige Zurückweisung, aber auch über Selbstermächtigung.
Über das Buch
Worum geht es denn genau in dem Buch? Fatma Aydemir erzählt die Geschichte von Hazal. Hazal steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag – den will sie groß feiern, dann kann sie nämlich machen was sie will. Zum Beispiel auszubrechen aus der Enge der traditionellen Familie, in der die Mutter streng und der Vater abwesend ist. Ihre Mutter hält davon aber gar nichts – Tochter bleibt Tochter, volljährig hin oder her. Auch Hazal weiß eigentlich, dass es so einfach nicht ist. Zur Enge gehören auch finanzielle Nöte, trotz haufenweise Bewerbungen klappt es nicht mit einem Ausbildungsplatz. Stattdessen hängt sie in sinnlosen schulischen Maßnahmen und auf einem Nebenjob ab. Woran das liegt – gesagt wird es nicht, aber wer zuhört, versteht schnell: die deutsche Gesellschaft hält Türen vor ihr verschlossen.
Wut und Heimat
Der Wendepunkt kommt in ihrer Geburtstagsnacht, als Hazal und zwei ihrer Freundinnen vorm Club abgewiesen werden. Frustration wird zu Wut. Wut wird zu Gewalt. Ein Mensch stirbt, Hazal flieht nach Istanbul – obwohl sie noch nie dort war, ist es der Ort, der ihr immer Halt gegeben hat. Eine Stadt, die sie insgeheim wie eine Heimat betrachtet. Eine Heimat, die nur auf sie wartet. Wo alle Menschen schön, aufregend und frei sind. Wo sie keine “Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme” machen muss. Wo Türsteher*innen sie in den Club lassen. Dort angekommen merkt sie allerdings, dass auch hier nicht alles super, vieles sogar ziemlich scheiße ist.

Fatma Aydemir – Ellbogen
Schreiben braucht Mut
Was das Buch unter anderem so bemerkenswert macht, ist die ausbleibende Heilung. Nach einem drastischen Ereignis folgt in Literatur und Film oft eine Art Wiedergutmachung. Die Person durchläuft dann eine Entwicklung, damit das Gleichgewicht der Geschichte wieder hergestellt werden kann – die so genannte Katharsis. Die bleibt hier aus. Denn Hazal bereut nicht – sie geht ihren Weg weiter. Es ist ziemlich radikal, das so zu schreiben, denn beim Lesen wartet man geradezu auf eine Aufarbeitung. Viele Kritiker*innen finden das anstößig oder empörend. Fatma Aydemir sagt im Gespräch, dass es Mut brauche, um Geschichten zu erzählen, dass man Dinge offen lassen müsse. Genau diesen Mut hat sie hier bewiesen. Oft wird sie gefragt, warum sie Hazal nicht sympathischer geschrieben hätte. Aber Hazal und ihre Geschichte sollen unangenehm, nervig und komplex sein. Die Sprache von Hazal ist vollgepackt mit “Nuttenschuhen”, “Titten” und “Hurenkindern”, manchmal fällt das Lesen schwer. Hazal ist eine genervte und wütende 17-Jährige. “Wäre sie das nicht, würde etwas nicht stimmen, in dem Alter muss man Autoritäten hinterfragen”, kommentiert Aydemir dazu. “Es ist auch unbequem gewesen, sie zu schreiben” sagt sie. Aber wie Mut gehört das für sie zum Schreiben dazu: die Konfrontation mit dem Unangenehmen, mit den Seiten an uns, die wir nicht sehen wollen, oder die wir versucht haben zu vergessen.
Irgendwo zwischen Coolness und Unsicherheit
Bei alldem wäre es leicht, Hazal einfach als dummes Mädchen zu sehen. Eine pubertierende Teenagerin eben. So einfach ist es jedoch nicht. Ja, ihr Ton ist schnoddrig und schwankt zwischen provokanter Gleichgültigkeit, trotzigen Sticheleien, cool überspielter Unsicherheit und warmer Fürsorge – je nachdem mit wem sie spricht. Sie urteilt hart und kategorisiert schnell, ihre Beobachtungsgabe für die Stimmung der Menschen um sie herum und für Ungerechtigkeiten ist messerscharf. Damit verschafft sie sich aber nicht nur mehr Abstand zu all den Dingen, die sie fürchtet und all der Ablehnung mit der sie jeden Tag umgehen muss. Sie zeigt genau mit dieser Sprache ihre sensible, verletzliche und unsichere Seite. Hazal ist auf der Suche. Nach ihrem Platz in der Gesellschaft, nach Halt, nach Liebe, nach Selbstermächtigung und irgendwie auch nach Heimat – während sie alles um sich herum in Frage stellt, bleibt die Sehnsucht immer groß.
Geschichten wie diese werden selten erzählt – oder genauer genommen selten gehört. Es gibt sie, sie sind Teil von Deutschland, aber nur selten Teil der elitären Welt der Literatur. Der Literaturbetrieb öffnet sich nur ungern.
“Wir müssen eigene Strukturen schaffen” sagt Fatma Aydemir.
Gut, dass es die q[lit]*clgn gibt.
Ellbogen (2017) – Fatma Aydemir – Carl Hanser Verlag – 271 S. – 20 € (gebundene Ausgabe)